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Schweizerischer Nationalfonds / Fonds national suisse

Sperrfrist 11.12 1000 - Wegweisende Zusammenarbeit bei der Erforschung der Jenischen, Sinti und Roma in der Schweiz.

Bern (ots)

Sperrfrist bis 11.12.2007, 10:00 Uhr
Neue Einsichten in die Geschichte der Fahrenden
Schweizerische Institutionen haben im 19. und 20. Jahrhundert die 
Minderheiten der Fahrenden stigmatisiert und kriminalisiert. Allein 
das von der Pro Juventute getragene «Hilfswerk für die Kinder der 
Landstrasse» bemächtigte sich rund 590 Kinder. Das Nationale 
Forschungsprogramm «Integration und Ausschluss» (NFP 51) hat eine 
wegweisende Zusammenarbeit zwischen Historikern sowie Jenischen, 
Sinti und Roma realisiert.
Die Geschichte der Fahrenden in der Schweiz - der Jenischen, Sinti
und Roma - gilt für den oft als vorbildlich geltenden demokratischen 
Rechtsstaat als Sündenfall. Die Bemühungen von Institutionen und 
Behörden, die kulturellen Minderheiten den herrschenden Normen zu 
unterwerfen, führten zu deren Ausgrenzung und Unterdrückung, die bis 
zu Zwangssterilisationen und Kastrationen reichte. Das von der Pro 
Juventute getragene «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» nahm 
den Fahrenden zwischen 1926 und 1973 systematisch ihre Kinder weg und
brachte sie in Pflegefamilien, Heimen, Kliniken und Anstalten unter, 
um aus ihnen sesshafte Menschen zu machen.
Erfinderische Gegenstrategien
Drei Forschungsteams unter der Leitung von Roger Sablonier und Thomas
Meier vom Historischen Seminar der Universität Zürich, Georg Jäger 
vom Institut für Kulturforschung Graubünden sowie Thomas Huonker vom 
Schweizerischen Institut für Antiziganismusforschung haben im Rahmen 
des Nationalen Forschungsprogramms «Integration und Ausschluss» (NFP 
51) die Geschichte der Fahrenden in der Schweiz im 19. und 20. 
Jahrhundert untersucht. Erstmals bei einem Forschungsvorhaben dieser 
Grösse bezogen die Historiker und Historikerinnen für ihre Arbeit 
gezielt die Sichtweisen und Erfahrungen der Betroffenen mit ein. 
Mittels der sozialwissenschaftlichen Interviewtechnik der Oral 
History rekonstruierten die Forschenden - besonders Thomas Huonker - 
die Biographien und Selbstbilder der Betroffenen. Das Team von Georg 
Jäger untersuchte am Beispiel des Kantons Graubünden, in dem 
besonders viele Jenische lebten, deren soziale Situation und 
Lebenszusammenhänge. Schon im frühen 19. Jahrhundert bekämpften die 
bündnerischen Amtsstellen die fahrende oder halbsesshafte Lebensweise
der Jenischen. Aus Selbstzeugnissen wird indes deutlich, dass sich 
diese Minderheit dem auf sie ausgeübten Druck nicht einfach beugte. 
Erfinderisch federte sie die behördlichen Disziplinierungsversuche 
und Ausschlussmassnahmen mit ihren weit verzweigten Familiennetzen 
ab.
Ein besonderes Augenmerk richtete das Team um Roger Sablonier - 
auch dies eine Pionierleistung - auf die Wirkungen der Aktendossiers,
welche das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» und die 
Behörden über ihre Fälle anlegten. Die Stigmatisierung und 
Diskriminierung der so genannten Vaganten waren eng mit der 
Bürokratisierung des Staates und der Verwaltung verknüpft. Die Akten 
und die in ihnen enthaltenen Wertungen zirkulierten nicht nur 
innerhalb des «Hilfswerks», sondern auch bei weiteren Behörden, 
Heimen und Kliniken. Die Schriftstücke wurden von den 
Verantwortlichen für wissenschaftliche und propagandistische Zwecke 
benutzt, in Broschüren des «Hilfswerks» aufgegriffen und in 
Presseartikeln zitiert. Die Wirkungsmacht der Akten zeigte sich nicht
zuletzt, als sie von Betroffenen eingesehen wurden. Die sich 
beispielsweise auf das körperliche Aussehen («Zwerg»), die schulische
Leistung («dumm»), das sexuelle Verhalten («dirnenhaft»), den 
Geisteszustand («schwachsinnig») oder den Charakter («Lump») 
beziehenden Wertungen führten zu heftigen emotionalen Reaktionen.
Genaue Zahlen
Dank der Forschung des Teams um Roger Sablonier sind nun erstmals 
genaue Zahlen zu den vom «Hilfswerk» erfassten Kindern bekannt. Die 
Behörden bemächtigten sich insgesamt rund 590 Kinder, von denen die 
Hälfte aus dem Kanton Graubünden stammte. Bei zwei Dritteln der 
Kinder übte das «Hilfswerk» die Vormundschaft aus, bei 200 nahm es 
eine fürsorgerische Funktion wahr. Die meisten Kinder erhielten keine
oder nur eine rudimentäre Schulbildung. Über 80 Prozent konnten 
keinen Beruf wählen, sondern wurden als billige Hilfskräfte verdingt.
Über ein Viertel der Kinder wurde kriminalisiert und in geschlossene 
Anstalten gesperrt.
Das neue NFP-51-Bulletin mit dem Schwerpunkt «Jenische, Sinti und 
Roma in der Schweiz» ist abrufbar unter http://www.nfp51.ch.
Der Text dieser Medienmitteilung steht auf der Website des 
Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung: http://www.snf.ch > D > 
Medien > Medienmitteilungen

Kontakt:

Prof. Dr. Roger Sablonier
Universität Zürich
Historisches Seminar
Karl Schmid-Str. 4
CH-8006 Zürich
Tel: +41 (0)41 710 70 88
E-Mail: sablon@hist.uzh.ch

Dr. Georg Jäger
Institut für Kulturforschung Graubünden
Reichsgasse 10
CH-7000 Chur
Tel: +41 (0)81 252 70 39
E-Mail: kultjaeg@spin.ch

Dr. Thomas Huonker
Schweizerisches Institut für Antiziganismusforschung
Ährenweg 1
CH-8050 Zürich
Tel.: +41 (0)78 658 04 31
E-Mail: thomas.huonker@spectraweb.ch

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