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Freiheit und Risiko - Referat von Bundespräsident Moritz Leuenberger am Ustertag

Uster (ots)

Der Ustertag ist ein ganz besonderer Tag. Er gedenkt
der Freiheit, welche 10'000 Menschen vor 172 Jahren hier in Uster
gefordert haben.
Unser Land kennt viele politische Gedenk- und Feiertage: Der 1.
August erinnert uns an den Rütlischwur. Am Sechseläuten zelebrieren
die Zürcher Zünfte die alte Zunftherrschaft. In Morgarten, Sempach,
Murten oder Dornach werden alljährlich die Kriegserfolge der alten
Eidgenossen «gefeiert».
Die moderne Schweiz geht hingegen fast leer aus: Die Helvetik, die
uns die ideelle Grundlage für den Bundesstaat lieferte, verschweigen
wir immer noch schamvoll; offenbar hat sie sich als Niederlage in
unser Bewusstsein eingebrannt. Die Bundesverfassung von 1848 ist uns
nur gerade alle 50 Jahre eine Feier wert. Und auch die kantonalen
Regenerationsverfassungen, die 1830 das Ende der aristokratischen
Herrschaft einläuteten und den Beginn einer freien, demokratischen
Schweiz markierten, sind ebenfalls in Vergessenheit geraten - wäre da
nicht das Unikat «Ustertag». Er ist etwas ganz Besonderes im
helvetischen Festkalender, traditionell aber doch dem Wandel
unterworfen.
Ich bin nämlich - wie es scheint - der erste Sozialdemokrat, der
am Ustertag die Kanzel besteigt. Eine Tradition wird erneuert. Das
habe ich in diesem Jahr bei verschiedenen Gelegenheiten ja auch
versucht.
So auch heute: Denn eigentlich habe ich dieses Jahr ja nur
Minderheiten besucht: die Frauen und Mannen im Albisgüetli, die
Automobilinnen und Automobile in Genf, die Herren und Herren und
Damen und Damen in Zürich, die Sennen und Turner in Nyon. Doch heute
bin ich bei einer Mehrheit, an einen Ort, wo alle beieinander sind:
Stadt und Land, alt und jung, an einem Ort auch, der zur Besinnung
einlädt. Sie ist in diesen Tagen ganz besonders nötig.
* * *
Wir haben einen «schwarzen Herbst» hinter uns:
Die terroristischen Anschläge in den USA trafen das Herz einer
offenen, liberalen Gesellschaft.
Das Attentat in Zug war ein Anschlag gegen eine demokratische
Institution, in der Männer und Frauen aus dem Volk - im Auftrag eben
dieses Volkes - unsere politische Gemeinschaft gestalten.
Der wirtschaftliche Niedergang der Swissair kostet Tausende von
Arbeitsplätzen. Die Steuerzahler geben Hunderte von Millionen Franken
für eine neue Airline aus. Schwerer wiegt der Vertrauensverlust: Die
Swissair bürgte in der ganzen Welt für schweizerische Qualität und
Zuverlässigkeit und sie wurde von den angesehensten
Wirtschaftsführern unseres Landes geleitet.
Die Katastrophe am Gotthard, in einem der sichersten Tunnel
Europas, hat uns erneut vor Augen geführt: absolute Sicherheit gibt
es nicht, und bohren wir noch so viele Röhren und Fluchtstollen in
unsere Berge.
Diese Ereignisse - jedes für sich allein und erst recht in dieser
Ballung - haben Schrecken, Trauer und Verunsicherung ausgelöst.
Depressive Erkrankungen sollen stark zugenommen haben. Ich selber
hatte vor kurzem im Bundeshaus eine Begegnung mit Schülerinnen und
Schülern, die von mir nur wissen wollten, ob ein Anschlag wie in den
USA auch bei uns passieren könne und ob ein Krieg drohe.
Ob Kind oder Erwachsener, uns ist bewusst geworden: All unsere
Errungenschaften, seien sie nun politisch, wirtschaftlich oder
technisch, sind mit einem Risiko verbunden.
  • * *
  • Wir sahen in New York die Risiken, welche entstehen, wenn sich die globalen Ungleichheiten verschärfen, wenn die Welt sich spaltet in Gewinner und Verlierer, in Übersättigte und Hungernde.
  • Wir sahen die Risiken einer offenen Gesellschaft, in welcher sich die Politik nicht in Hochsicherheitstrakte verschanzt, sondern allen Bürgern den Zugang zu ihren Vertretern ermöglichen will.
  • Wir sahen die Risiken eines «sich selbst verherrlichenden Managertums». Diesen Ausdruck gebrauchte eine Schweizer Bank in ihrem Wochenbericht. Wir könnten auch sagen: Wir sahen die Risiken einer geschlossenen Gesellschaft, welche mahnende Stimmen nicht mehr registriert, die nicht begreift, dass es andere Auffassungen gibt als die eigene, dass es andere gesellschaftliche und politische Realitäten gibt als die in einer Schule erlernten Theorien.
  • Und wir sahen zuletzt die Risiken einer ungebremsten Mobilität, die wir in den Rang eines Menschenrechts erhoben haben und der wir jährlich allein in der Schweiz 600 Menschenleben opfern, von den Schäden an der Umwelt ganz zu schweigen.
  • * *
Wie können wir uns vor diesen Risiken schützen? Wie sollen wir mit
ihnen umgehen?
Risiken sind Gefahren, denen wir uns aussetzen. Das Leben selbst
ist schon ein Wagnis. Und wenn der Mensch gestaltet, schafft er
selber immer auch Risiken.
Jede technische Erfindung, jede wirtschaftliche Investition, jede
zivilisatorische Errungenschaft ist mit Risiken verbunden, die
Freiheit, die Menschenrechte, die Demokratie. Wenn wir jedes Risiko
vermeiden wollten, müssten wir vor jeder Veränderung zurückscheuen.
Ohne Risiko keine Innovation, ohne Risiko kein Fortschritt.
Um Risiken minimieren oder teilweise auch eliminieren zu können,
dürfen wir sie nicht verdrängen, sondern müssen sie erkennen und uns
mit ihnen auseinander setzen und uns die Erkenntnisse, die wir daraus
gewinnen, zu nutze zu machen.
Unsere Aufgabe ist der verantwortungsvolle Umgang mit den Risiken.
* * *
Ob New York oder Zug, ob Balsberg oder Gotthard: Jedes dieser
Ereignisse soll uns zur Selbstbesinnung mahnen, von unserer
Verkehrspolitik bis zur Weltinnenpolitik, vom Kleinen bis ins Grosse.
In der Krise wollen wir immer auch die Chance sehen.
Gotthard
Der Gotthardunfall stellt uns die Frage: Was ist uns wichtiger,
das Dogma der freien Wahl der Verkehrsmittel oder die Sicherheit?
Die Chance, die wir jetzt nutzen müssen, heisst:
  • die Sicherheit zu optimieren,
  • die EU-Länder in unsere Verlagerungspolitik einzubinden und
  • zu zeigen, dass der Transport in den Produktionsketten nicht beinahe unentgeltlich sein darf.
Balsberg
Der Fall der Swissair stellt Fragen nach dem Verhältnis von
Wirtschaft und Politik. Die am Tag des Groundings unterbrochene
Kommunikation zwischen Banken und Bundesrat war mehr als eine Panne.
Das war ein Symptom.
Nach dem Fall der Berliner Mauer wich die Angst vor einem Krieg
einem fast grenzenlosen Vertrauen in die Märkte. Wirtschaft und
Politik entfremdeten sich zusehends. Vom globalisierten Hochsitz
herab wurden Politiker belehrt, wie ein Staat effizient zu führen
sei. Der Staat wurde in die Rolle einer Reparaturwerkstätte
wirtschaftlichen Waltens gedrängt und die Handlungsmöglichkeiten der
Politik verengten sich.
Es wird heute viel von einer Renaissance des Politischen
gesprochen, doch die Chance, die wir jetzt packen wollen, ist die
gemeinsame Verantwortung von Politik und Wirtschaft. Beim Aufbau
einer neuen Fluggesellschaft haben wir gezeigt, dass dies möglich
ist. Wir hätten es leichter gehabt, wenn dieser Dialog schon früher
stattgefunden hätte. Was wäre uns nicht alles erspart geblieben, wenn
die Swissair bei ihren Engagements in Frankreich und Belgien mehr
politisches Bewusstsein bewiesen hätte?
Die Interessen von Politik und Wirtschaft sind nicht immer gleich
gelagert. Dazu haben sie zu unterschiedliche Aufgaben zu erfüllen. Es
gibt eine Rollenteilung, und sie gilt nicht nur zwischen Wirtschaft
und Politik. Denn eine Gesellschaft wird noch von vielen anderen
Kräften geformt: von Medien, von Forschung, Technik und Wissenschaft
und von der Kultur. Sie alle müssen ihren Stellenwert und ihren
Freiraum erhalten.
Rollenteilung heisst nicht, einander einfach in Ruhe lassen. Sie
impliziert auch gegenseitige Kontrolle und setzt auf allen Seiten
Respekt voraus. Bei etwas mehr Respekt vor anderen Meinungen wäre der
Balsberg möglicherweise nicht eingestürzt.
Zug
Diese Aufforderung richtet sich auch an die Politik. Wie rasch
werden heute, wenn etwas vermeintlich schief gelaufen ist oder wenn
jemand schon nur eine andere Meinung hat, Köpfe gefordert. Wie
leichtfertig werden politische Gegner zu Feinden gestempelt. Wie
sorglos werden politische Institutionen verhöhnt und verspottet. Und
wie gefährlich wird es, wenn solche Worte der Häme und der Verachtung
in den Köpfen dafür empfänglicher Menschen zu Hass und in ihren
Händen zu Waffen werden.
Unsere Antwort auf die Tat von Zug kann deshalb nie nur darin
bestehen, mehr Polizisten vor die Rathäuser zu stellen und die
Ratssäle mit Sicherheitsschleusen auszustatten. Wir haben keine
«classe politique», die vom Volk abgeschottet werden muss, sondern
wir wollen eine politische Kultur des gegenseitigen Respekts, und
dies allein schon deswegen, weil sich nur so genügend Menschen bereit
finden, diesen Staat durch ihre Arbeit in Vereinen,
Feuerwehrkommissionen, Parteisektionen und Schulpflegen mitzutragen.
Stehen wir zu unseren politischen Differenzen. Eine offene
Gesellschaft lebt von der Freiheit und diese davon, dass wir von ihr
auch wirklich Gebrauch machen - aber so Gebrauch machen, dass die
Freiheit und Integrität der Andersdenkenden gewahrt bleiben.
New York
Was kann die Chance des 11. September sein? Wie weit gilt Toleranz
auch gegenüber Intoleranten? Wie verteidigt sich eine offene
Gesellschaft, ohne die Werte, die sie vertritt, auf's Spiel zu
setzen?
Ich selber habe nach den Attentaten in den USA im Namen des
Bundesrates erklärt, Krieg und Vergeltung seien nicht geeignet, um
Gerechtigkeit herzustellen.
Vielmehr wollen wir ja eben gerade einen Clash der Kulturen und
Religionen vermeiden. Dies können und müssen wir organisieren. Das
ist eine globale Aufgabe und dazu brauchen wir globale Strukturen.
* * *
Die Weltwirtschaft hatte bereits einmal, nämlich um 1900, den
gleichen Integrationsgrad erreicht wie heute. Der Waren- und
Kapitalverkehr, aber auch die Wanderung der Menschen über
Staatsgrenzen, ja Kontinente hinweg waren damals weitgehend frei. Was
aber vollständig fehlte, war eine Globalisierung der Gerechtigkeit,
der Menschenrechte, der Demokratie. Was fehlte, waren
Friedensorganisationen wie die EU oder die UNO, die zur
wirtschaftlichen Globalisierung ein politisches Gegengewicht gebildet
hätten. Wir kennen die Folgen: Das 20. Jahrhundert war eine Zeit
blutiger Kriege und brachte uns Faschismus und Kommunismus.
Wir haben heute die Chance und die Pflicht, aus den Versäumnissen
von damals zu lernen. Wir haben insbesondere zu lernen, dass wir eine
globale Verantwortung tragen. Ich nenne nur einige Punkte:
  • Wir müssen Perspektiven schaffen für die Millionen von Rechtlosen und Armen auf der Welt, die nichts zu verlieren haben.
  • Alle Kinder der Welt brauchen eine Ausbildung.
  • Die Entschuldung der ärmsten Länder muss vorangetrieben werden, damit diese dem Teufelskreis der Armut entkommen.
  • Der Kampf gegen Kriegsverbrecher, gegen das organisierte Verbrechen und den Terrorismus muss auf allen Ebenen geführt werden und durch die Staatengemeinschaft wahrgenommen werden.
  • Menschen- und Minderheitenrechte müssen kompromisslos geachtet werden.
Am 3. März stimmen wir über einen Beitritt zur UNO ab. Wir werden
dann ein deutliches Zeichen setzen können für unsere globale
Solidarität und unsere Bereitschaft, Verantwortung mit zu tragen für
eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit.
* * *
Jedoch ist es mit Strukturen allein noch lange nicht getan. Die
offene Gesellschaft muss vor allem gelebt werden, so gelebt werden,
dass sie Freiheit und Sicherheit ermöglicht.
Diese sind keine Konkurrentinnen, sondern vielmehr aufeinander
angewiesen. Keine Freiheit ohne Sicherheit, keine Sicherheit ohne
Freiheit.
Ein Text von Robert Walser hat mich immer sehr berührt. Er
beschreibt, wie Jakob von Gunten mit seiner Lehrerin einen Keller
verlässt und in die Freiheit tritt: «Sie berührte die Mauer, und weg
war der garstige Keller, und wir befanden uns auf einer glatten,
offenen, schlanken Eis- und Glasbahn. Wir schwebten dahin wie auf
wunderbaren Schlittschuhen, und zugleich tanzten wir, denn die Bahn
hob und senkte sich unter uns wie eine Welle. ... «Das ist die
Freiheit», sagte die Lehrerin, ... nur momentelang, nicht länger,
hält man sich in den Gegenden der Freiheit auf. ... Sieh, wie die
wundervolle Bahn, auf der wir schweben, langsam sich wieder auflöst.
Jetzt kannst Du die Freiheit sterben sehen, wenn Du die Augen
aufmachst.»
Freiheit definiert sich nach einem Inhalt. Jeder Inhalt ist
begrenzt. Es gibt keine Freiheit ohne Grenzen, sonst bleibt es eine
Freiheit der Beliebigkeit und Hemmungslosigkeit, die sich am Ende
selbst gefährdet.
So wie es im Verkehr auf Strasse, Schiene und in der Luft keine
grenzenlose Freiheit geben kann, so wie die Freiheit der Wirtschaft
nie eine unbegrenzte sein kann, so wie es auch für die politische
Meinungsäusserungsfreiheit Grenzen gibt, so muss sich auch jedes
Land, jede Kultur, jede Religion Schranken setzen.
Nur Freiheit, die die Freiheit anderer respektiert, ist
nachhaltige Freiheit. Nur Freiheit, die anderen die Chance lässt, von
ihrer Freiheit auch Gebrauch zu machen, bleibt nachhaltige Freiheit.
Wer hingegen die Freiheit anderer einschränkt, mit Terroranschlägen,
mit wirtschaftlicher Macht, mit politischer Unterdrückung, muss
wissen: Die Unfreiheit, die er anderen beschert, wird auch zu seiner
eigenen Unfreiheit.
Freiheit muss eingebettet sein in einen Rahmen der Gerechtigkeit
und der Solidarität. Sie überlebt nur in einem am Zusammenhalt und am
sozialen Ausgleich interessierten Gemeinsinn. Freiheit allein hat
also niemand, sondern nur zusammen mit der entsprechenden
Verpflichtung.
Mahatma Gandhi hat sieben «soziale Sünden» aufgezählt, an der
Spitze standen: Politik ohne Prinzipien und Handel ohne Moral.
Unsere neue Bundesverfassung nennt diese Verantwortung jeder
Person ausdrücklich.
Solche Verantwortung braucht jede Freiheit.
Die Wirtschaftsfreiheit erschöpft sich nicht in ungebändigter,
weltweiter Spekulation und Steuerflucht.
Die Medienfreiheit besteht darin, die Oeffentlichkeit zu
informieren, die Regierungen zu kritisieren. Das aber ist gepaart mit
der Verantwortung für genaue und wahrheitsgemässe Berichterstattung.
Die Religionsfreiheit kann nur bestehen, wenn die Religionen das
religiöse, kulturelle und zivilisatorische Erbe anderer Religionen
respektieren.
Die politische Freiheit besteht nur, wenn es gelingt, Rechte und
Verantwortlichkeiten im Gleichgewicht zu halten, sonst kommt es zur
Vorherrschaft von Mächtigen, seien dies Menschen oder Staaten.
* * *
Hier in Uster haben vor 172 Jahren 10'000 Menschen Freiheit
gefordert. Und zwar ganz im Sinne, wie wir Freiheit verstehen müssen:
Sie forderten nicht nur die Freiheit vor politischer und
wirtschaftlicher Unterdrückung, sondern auch die Freiheit dazu,
diesen Staat zu gestalten und am Aufbau eines gerechten und
solidarischen Gemeinwesens mitzuarbeiten. Sie wussten: Die Freiheit
wagen, ist eine demokratische Verpflichtung.
Deswegen ist der Ustertag ein ganz besonderer Tag.

Kontakt:

Schweizerische Bundeskanzlei, Information.

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