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Personenfreizügigkeit mit der EU: Erfolgsrezept oder Auslaufmodell?

Personenfreizügigkeit mit der EU: Erfolgsrezept oder Auslaufmodell?
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Neuchâtel (ots)

Mit der bevorstehenden Abstimmung über die Begrenzungsinitiative ist das Fortbestehen der Personenfreizügigkeit in Frage gestellt. Während Wirtschaftsvertreter*innen und an engen Beziehungen mit Europa interessierte Kreise das Personenfreizügigkeitsabkommen als erfolgreich werten, führt es bei anderen zu Ängsten vor einer übermässigen Zuwanderung und vor Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt. Obschon zuwanderungskritische Stimmen seit der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative präsenter sind, wird die Personenfreizügigkeit weiterhin überwiegend als freiheitliche Errungenschaft wahrgenommen.

Die Initiative, über die das Stimmvolk am 27. September 2020 entscheidet, verlangt eine eigenständige Regelung der Zuwanderung von Ausländer*innen in die Schweiz, welche mit der Personenfreizügigkeit zwischen der Schweiz und der EU nicht vereinbar ist.

Migrationsbewegungen: Trend zu demografischer Verjüngung und höherer Bildung

Gemäss einer demografischen Längsschnittanalyse von Migrationsdaten hat das Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens die Migrationsbewegungen beeinflusst. Jonathan Zufferey, ehemaliger Mitarbeiter des "nccr - on the move" an der Universität Genf, zeigt in seinem Policy Brief auf, dass sowohl die Zahl der dauerhaft Niedergelassenen wie auch die Anzahl der Weggezogenen signifikant zugenommen haben. "Die in den vergangenen 15 Jahren zunehmenden Migrationsströme haben zu einem [...] Wachstum der Schweizer Wohnbevölkerung um 700'000 Personen geführt" erläutert Philippe Wanner, Professor an der Universität Genf. Die Migrationsbewegungen haben sich in diesem Zeitraum nicht nur intensiviert, sondern auch in ihrer Zusammensetzung verändert: "So hat sich die Zuwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte zwischen 1991 und 2014 mehr als verdoppelt" erklärt Ilka Steiner, ehemalige Projektmitarbeiterin, die die Daten analysierte. Gemäss Philippe Wanner hat sich die Zuwanderung damit auf das Bildungsniveau und die Altersstruktur der Schweizer Wohnbevölkerung ausgewirkt, indem die Migration in erster Linie eine Verjüngung der Bevölkerung und eine wachsende Zahl erwerbsfähiger Personen brachte.

Nachfragegesteuerte Zuwanderung: Keine weitreichenden Verdrängungseffekte

Die zunehmende Zuwanderung und das veränderte Profil der Migrant*innen gehen einher mit einer Nachfrage nach entsprechenden Arbeitskräften. Trotzdem hält sich die Befürchtung, dass die Zuwanderung zu einer zunehmenden Konkurrenz oder gar Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt sowie zu einer Senkung der Löhne führt. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern die zugewanderten die inländischen Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt ergänzen oder sie vom Arbeitsmarkt verdrängen. Ensar Can, ehemaliger Mitarbeiter des "nccr - on the move" an der Universität Basel, kommt in seiner ökonomischen Studie zum Schluss, dass die Personenfreizügigkeit nicht zu einer weitreichenden Verdrängung von Inländer*innen geführt hat. Gewisse Gruppen von Arbeitskräften spüren jedoch nachteilige Folgen: "Während Hochqualifizierte vornehmlich profitieren von der Zuwanderung, müssen einige Niedrigqualifizierte auch negative Auswirkungen in Kauf nehmen", führt Ensar Can aus.

Zuwanderungspolitik und Einstellungen zur Freizügigkeit: Konstant und differenziert

Während demografische und ökonomische Studien seine überwiegend positiven Auswirkungen betonen, polarisiert das Prinzip des freien Personenverkehrs mit der EU die öffentliche Meinung. Die Annahme der Masseneinwanderungsinitiative 2014 gab den zuwanderungskritischen Stimmen Auftrieb. Im Hinblick auf die Abstimmung vom 27. September stellt sich daher die Frage, wie sich die öffentliche Meinung seither verändert hat. Aktuelle Auswertungen weisen darauf hin, dass die Unterstützung für den freien Personenverkehr in der Schweiz erstaunlich konstant ist und seit 2014 tendenziell zugenommen hat. Dieses auf den ersten Blick erstaunliche Meinungsbild legt den Schluss nahe, dass sich die schweizerische Bevölkerung trotz der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative und der asylpolitischen Krise in Europa nicht gegen die Personenfreizügigkeit gewendet hat.

Dies lässt sich laut Gianni D'Amato, Direktor des "nccr - on the move" und Professor an der Universität Neuchâtel, dadurch erklären, dass die Schweizer Zuwanderungspolitik seit jeher von Konstanz geprägt und primär ökonomisch legitimiert gewesen ist. "Die Schweizer Wirtschaft verfolgt seit dem Zweiten Weltkrieg eine durch Arbeitskräftenachfrage gesteuerte Zuwanderung, die von der Bevölkerung - mit Ausnahme der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative - gestützt worden ist" stellt Gianni D'Amato fest.

Die Auswertung zeigt weiter auf, dass die Personenfreizügigkeit deutlich differenzierter beurteilt wird, als es die polarisierten politischen Auseinandersetzungen vermuten lassen. Gemäss Philipp Lutz, PostDoc an der Universität Genf, sind die Einstellungen zur Personenfreizügigkeit oft zwiespältig und Stimmberechtigte wägen in politischen Entscheiden unterschiedliche Faktoren ab: "Die freie Mobilität über Grenzen hinweg weckt zwar in Teilen der Bevölkerung Befürchtungen über unerwünschte Einwanderung, wird allgemein jedoch in erster Linie als eine freiheitliche Errungenschaft verstanden", schliesst Philipp Lutz.

Forscherpanel und politische Debatte zur Begrenzungsinitiative am 27. August 2020

Das Polit-Forum Bern und der "nccr - on the move" organisieren am 27. August 2020 ab 16:00 Uhr im Käfigturm in Bern eine zweiteilige Veranstaltung. Im ersten Teil stellen Forschende Befunde zur Personenfreizügigkeit und ihren Implikationen für die Schweiz vor. Im zweiten vom Polit-Forum Bern organisierten Teil diskutieren Politiker*innen Argumente für und gegen die Begrenzungsinitiative.

Programm Event "Migrationsland Schweiz: Forscherpanel und Abstimmungsdebatte zur Begrenzungsinitiative" vom 27. August 2020: https://nccr-onthemove.ch/events/migrationsland-schweiz/

Die begleitend zur Veranstaltung publizierte "nccr - on the move" Blogserie zur Begrenzungsinitiative ( https://blog.nccr-onthemove.ch/category/begrenzungsinitiative/) liefert weitere Hintergrundinformationen und Analysen im Hinblick auf die Abstimmung am 27. September.

Forschungsergebnisse:

Can, Ensar (2016). Zwei empirische Studien zu aktuellen Fragestellungen der Schweizer Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, Dissertation Universität Basel.

Philipp Lutz (2020): Loved and Feared: Citizens' Ambivalence Towards Free Movement in the European Union, Journal of European Public Policy.

Philippe Wanner & Ilka Steiner (2018). Ein spektakulärer Anstieg der hochqualifizierten Zuwanderung in die Schweiz. Social Change in Switzerland, #16.

Philippe Wanner (2014). Une Suisse à 10 millions d'habitants. Enjeux et débats. PPUR Col-lection le Savoir Suisse.

Philippe Wanner (2020). Welche demografischen und gesellschaftlichen Folgen hat die Personenfreizügigkeit? Policy Brief #16, nccr - on the move.

Jonathan Zufferey, Ilka Steiner & Didier Ruedin (2020). The Many Forms of Multiple Migrations: Evidence from a Sequence Analysis in Switzerland, 1998 to 2008. International Migra-tion Review.

Jonathan Zufferey (2018). Migrationsverläufe von Ausländerinnen und Ausländern in der Schweiz: eine kontinuierliche Mobilität? Policy Brief #8, nccr - on the move.

Blogbeiträge

Blog Serie zur Begrenzungsinitiative und Personenfreizügigkeit mit folgenden Beiträgen: https://blog.nccr-onthemove.ch/begrenzungsinitiative/

Can, Ensar (24.08.2020). Beschert uns die Personenfreizügigkeit tiefere Löhne und Arbeitslosigkeit?

Lutz, Philipp (26.08.2020). Personenfreizügigkeit in der Krise?

Progin-Theuerkauf, Sarah (25.08.2020). Kündigung des Freizügigkeitsabkommens - und dann?

Nationaler Forschungsschwerpunkt (NFS) "nccr - on the move"

Der vom Schweizerischen Nationalfonds und der Universität Neuchâtel finanzierte Nationale Forschungsschwerpunkt (NFS) "nccr - on the move" erforscht Themen rund um Migration und Mobilität. Dabei setzt er sich zum Ziel, das Zusammenspiel von Migration und Mobilität und damit einhergehenden Phänomenen in der Schweiz und darüber hinaus besser zu verstehen. Er führt Forschung aus den Sozial-, Wirtschafts- und Rechtswissenschaften zusam-men. Das von der Universität Neuchâtel koordinierte Netzwerk umfasst siebzehn Forschungsprojekte an elf Schweizer Hochschulen: Den Universitäten Basel, Fribourg, Genf, Lausanne, Luzern, Neuchâtel und Zürich, der ETH Zürich, dem Graduate Institute in Genf, der Fachhochschule Westschweiz sowie der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Pressekontakt:

Annique Lombard, Verantwortliche Wissenstransfer "nccr - on the move" annique.lombard@nccr-onthemove.ch, 032 718 39 55 / 076 461 09 66

Nicole Wichmann, Administrative Direktorin "nccr - on the move"
nicole.wichmann@nccr-onthemove.ch, 032 718 39 43 / 078 678 14 43