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ICC Switzerland: Veranstaltung in Berlin zum Reformbedarf im europäischen Kartellrecht am 14. Oktober 2008

Zürich (ots)

Alarmierend hohe Bussgelder und fehlende
Rechtsstaatlichkeit Experten sehen grossen Reformbedarf im
europäischen Kartellrecht
Mit spektakulär hohen Bussgeldern geht die Europäische Kommission
gegen illegale Kartellabsprachen in der EU vor. Unlängst erwischte es
das so genannte Paraffin-Kartell. 676 Millionen Euro müssen die
beteiligten Firmen in die EU-Kasse zahlen. Im vergangenen Jahr traf
es die führenden Aufzugshersteller, die zusammen fast eine Milliarde
Euro an Bussgeldern entrichten mussten. Allein gegen ThyssenKrupp
verhängte die Kommission ein Strafgeld von 479 Millionen Euro. Die
Sanktionen wurden nach Beobachtung von Experten in den vergangenen
Jahren erheblich verschärft. Zwischen 2005 und 2007 verdreifachte
sich der erhobene Gesamtbetrag.
Fachleute sind nicht nur wegen der Höhe der Bussgelder alarmiert.
Vielmehr weist das europäische Kartellrecht nach Ansicht vieler
Experten gravierende Mängel auf. "Die Forderung nach einer
Überprüfung der Kartellrechtsordnung ist sinnvoll und angemessen",
räumte auch der frühere Generaldirektor der Generaldirektion
Wettbewerb der EU-Kommission, Dr. Alexander Schaub ein, der gemeinsam
mit Unternehmensvertretern, Rechtspolitikern und Juristen am 14.
Oktober 2008 in Berlin in der Deutschen Parlamentarischen
Gesellschaft auf Einladung des Verfassungsrechtlers Prof. Dr. Rupert
Scholz und der Internationalen Handelskammer (ICC) Schweiz,
Deutschland und Österreich die rechtlichen und politischen
Fragezeichen der europäischen Kartellverfolgung diskutierte.
Fehlende Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens
Der bekannte Europarechtler Prof. Dr. Jürgen Schwarze und Anwälte
der Kanzlei Gleiss Lutz haben die kritischen Punkte des Kartellrechts
in einer Studie unter die Lupe genommen. Die Untersuchung weist
zahlreiche Schwächen der derzeitigen Praxis nach. Zum Verständnis
hilft ein Blick auf das übliche Verfahren. Kartelle sind naturgemäss
verschwiegene Gemeinschaften. Mit einer Kronzeugenregelung will die
Gemeinschaft die illegalen Zirkel knacken. Das erste geständige
Kartellmitglied geht straffrei aus. Sich selbst bezichtigende weitere
Unternehmen erhalten einen Nachlass auf das Bussgeld. Die Kommission
darf die Höhe des Bussgelds frei festlegen. Der Rahmen reicht bis zu
zehn Prozent des Umsatzes eines Unternehmens oder Konzerns.
Theoretisch könnten Grossunternehmen so mit Milliardenbeträgen
sanktioniert werden. Die betroffenen Firmen können gegen einen
Beschluss der Kommission nur eingeschränkt vorgehen und beim Gericht
erster Instanz des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in Luxemburg
klagen. Doch die Richter prüfen nicht die zugrundeliegenden Fakten
nach, sondern nehmen nur eine eingeschränkte Prüfung vor, ohne den
Sachverhalt selbst zu erforschen. Gleiches gilt für den EuGH selbst
als die nächste und gleichzeitig letzte Instanz.
Die Studie von Gleiss Lutz bemängelt die unpräzisen gesetzlichen
Grundlagen des Kartellbussenrechts. Die Kriterien für die Bemessung
der Bussgelder seien zu unbestimmt und es gebe keine ausreichenden
rechtlichen Grundlagen für die Haftung der Muttergesellschaften für
Tochterunternehmen. Auch die Kronzeugenregelung halten die Juristen
für fragwürdig, weil die anderen Kartellmitglieder faktisch zur
Selbstbelastung gezwungen werden, um höheren Strafen zu entgehen.
Auch die eingeschränkte gerichtliche Kontrolle der Entscheidungen
wird von den Experten beanstandet. Der Mit-Autor der Studie, Prof.
Dr. Jürgen Schwarze, fordert daher eine Reihe von Reformen des
geltenden Rechts. Dazu gehören Vorschriften für die Höhe der
Bussgelder, das Erfordernis des Nachweises eines Verstosses gegen das
Kartellverbot durch bestimmte Mitarbeiter. Auch sollten
Compliance-Programme, mit denen Firmen Rechtsverstösse verhindern
wollen, strafmildernd berücksichtigt werden. Vor allem aber setzt
sich die Analyse für ein rechtsstaatliches Verfahren ein, bei dem die
EU-Kommission als Ankläger auftritt, ein Gericht die Tatsachen des
Einzelfalls prüft und Bussgelder festlegt. "Es sollte ein neues,
zweistufiges Verfahren eingeführt werden", verlangte Schwarze.
Panel-Diskussion von Experten zeigt Reformbedarf auf
Über den Reformbedarf besteht weitgehende Einigkeit unter den
Fachleuten. "Wir sind der Meinung, dass das europäische Kartellrecht
auf den Prüfstand gehört", erläuterte Scholz. Auch das
Rechtsausschussmitglied im Europäischen Parlament, Klaus-Heiner Lehne
sieht "einen rechtsstaatlichen Nachbesserungsbedarf". Der
EVP-Abgeordnete plädierte für eine eigenständige Kartellbehörde in
Europa nach dem Vorbild des deutschen Bundeskartellamts und eine
Debatte über die Einführung eines Straftatbestands der
Kartellbildung. Damit könnten Vergehen auch mit Freiheitsstrafen
geahndet werden. In den USA ist dies gängige Praxis. Auch eine
Berücksichtigung der Compliance-Programme bei der Strafzumessung
findet Lehne wichtig.
Der rechtspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen
Bundestag, Jürgen Gehb, kritisierte die fehlenden rechtsstaatlichen
Grundlagen des Kartellbussenrechts. Es gehe nicht um die Höhe der
Bussgelder. Aber sie müssten auf rechtsstaatlichem Wege durchgesetzt
werden, sagte Gehb. Klaus Becher, Chefjurist bei Daimler Financial
Services und stellvertretender Vorsitzender des
BDI-Wettbewerbsauschusses, beklagte ebenfalls Gesetzesmängel. Es gebe
kein Verständnis dafür, dass das Gericht erster Instanz keine Prüfung
der Tatsachen vornehme. "Das muss sich ändern", forderte Becher.
Mittelalterliche Sippenhaft
Für erheblichen Ärger sorgt in der Wirtschaft auch die Haftung der
Muttergesellschaft für Verfehlungen in Tochterunternehmen. "Das
entspricht der mittelalterlichen Sippenhaft", stellte der Chefjurist
des Konzerns Total SA, Dr. Peter Herbel, fest. Im Strafrecht werde
auch nicht nach der Mutter oder dem Vater des Täters gefahndet,
sondern nach dem Täter selbst. Total ist über eine untergeordnete
Tochtergesellschaft gerade selbst von Strafzahlungen im
Paraffin-Kartell-Verfahren betroffen. Das Bussgeld betrage das
7-fache des Jahresumsatzes der Firma und das 40-fache des Gewinns,
beklagte Herbel eine hohe Strafzumessung der Kommission. Den
Durchgriff der Kommission auf das gesamte Unternehmen hält auch Dr.
Klaus Moosmayer für fragwürdig. Der Leiter des Compliance-Programms
der Siemens AG hält eine durchgängige Kontrolle aller Beschäftigten
in grossen Unternehmen für unmöglich. "Fehlverhalten wird es immer
geben", befürchtete Moosmayer. Die Bemühungen der Konzerne, Verstösse
zu verhindern, müssten daher berücksichtigt werden. Prof. Dr. Karl
Hofstetter, Chefjurist und Verwaltungsratsmitglied der Schweizer
Schindler Holding AG, fordert zudem die Bestrafung einzelner Täter.
"Wenn das Unternehmen alles getan hat, um Verstösse zu verhindern,
dann muss der Einzeltäter ran", verlangte Hofstetter.
Bussen schrecken ab - aber Busspraxis ist zu überprüfen Der
ehemalige Generaldirektor Wettbewerb der Kommission Schaub warb auch
um Verständnis für das harte Vorgehen der Kommission. Lange Zeit
hätten Kartellverstösse als Kavaliersdelikt gegolten und seien
praktisch nicht verfolgt worden. Die Kommission habe diese Aufgabe in
die Hand genommen. Der Experte hob die abschreckende Wirkung hoher
Bussgelder hervor. "Das hat in den Unternehmen zu einschneidenden
Veränderungen geführt", verteidigte Schaub die Strafzahlungen.
Trotzdem sei inzwischen eine Überprüfung der Praxis notwendig. Auch
das Bundeskartellamt hält das Kartellrecht für ein scharfes Schwert.
Die Kronzeugenregelung sei "extrem effektiv" und die Höhe der
Bussgelder schrecke ab, betonte ein Behördenvertreter.
Zusammenfassend mahnte Prof. Scholz, dass die Effektivität der
Kartellbekämpfung nicht als Legitimation dafür dienen dürfe, den
Rechtsstaat zu unterlaufen.

Kontakt:

Gleiss Lutz
Dr. Wolfgang Bosch
Mendelssohnstrasse 87
60325 Frankfurt am Main
Tel: +49/69- 95514-535

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