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Bundespräsident Moritz Leuenberger

Christopher Street Day: Ansprache von Bundespräsident Moritz Leuenberger

am Christopher Street Day vom 23. Juni 2001 auf dem
Helvetiaplatz in Zürich
Sie haben mich seinerzeit mit dem Argument eingeladen, ich sei ja
auch zu einer Minderheit ins Albisgüetli gegangen, also solle ich
doch auch zu Ihnen kommen. Sie haben also diesen Vergleich gemacht.
Dennoch gehe ich davon aus, dass es nicht zu viele Parallelen
zwischen dem Christopher Street Day und dem Christopher Day im
Albisgüetli gibt!
In einem Punkt haben Sie Recht, ich will im Präsidialjahr zu
Minderheiten gehen. Darum war ich ja auch bei den
Wirtschaftsvertretern in Davos, bei den Eisenbahnern in Bern, bei den
Karikaturisten in Morges, und ich war in Genf bei den Automobilen und
Automobilinnen. Dieses Land besteht ja aus lauter Minderheiten, aus
sprachlichen, religiösen, kulturellen.
Was Sie betrifft, frage ich mich manchmal: Sind Sie denn überhaupt
eine Minderheit? Denn: Egal wo ich hinkomme - ob an einen
wirtschaftlichen Anlass, ins Restaurant, ins Theater, ins Bundeshaus,
in den Kleiderladen - überall begegne ich Ihnen.
Ich habe mir Ihr Programmheft angeschaut, und ich habe
festgestellt, dass Sie offenbar zum lohnenden Zielpublikum für die
Werbung geworden sind: Sie haben weit mehr als die Hälfte der Seiten
mit Inseraten füllen können. Welche Minderheit schafft denn so etwas?
Ich habe mich also gefragt: Braucht es diesen Anlass überhaupt noch?
Braucht es denn den Bundespräsidenten? Sind Sie alle nicht längst
eine gesellschaftliche Macht?
Dann habe ich Briefe bekommen, in denen ich vor Ihnen gewarnt
wurde. Da sind meine Zweifel verflogen. In diesen Briefen ist die
Rede von "Schande", von einem "Spiel des Teufels", das Allermeiste
dürfte ich gar nicht zitieren, ohne mich strafbar zu machen. Ich habe
vorgestern einen wohl satirisch gedachten, aber einfach nur ordinär
verunglimpfenden Beitrag des Showmasters Harald Schmidt zu Klaus
Wowereit gesehen. Ich habe auch von den Schwierigkeiten gelesen, die
Sie im Wallis haben. Und ich habe gelesen, dass Sie an Ihren
Arbeitsplätzen gemobbt, nicht befördert, dass einige sogar entlassen
werden, wenn sie zu ihrer Homosexualität stehen. Sie haben diese
Probleme am Arbeitsplatz zum Thema des diesjährigen CSD gemacht.
Ich stelle fest, dass in unseren Breitengraden die Aufklärung halt
doch noch nicht vollständig Einzug gehalten hat. Die Aufklärung löste
im Lauf des 17. und 18. Jahrhunderts, also vor knapp 300 Jahren, den
Absolutismus ab. Sie brachte Europa die ersten Menschenrechte, die
freie Meinungsäusserung, die Bücher, die exakte Wissenschaft, den
Begriff der Toleranz und vor allem das "Licht der Vernunft". Kirche
und Thron mussten ihr Monopol auf die einzig richtige Meinung und
Moral abgeben. Das war eine Liberalisierung des Moralanspruches, also
quasi eine Oeffnung des Moralmarktes. König Friedrich Der Grosse von
Preussen erkannte: "In meinem Staate kann jeder nach seiner Fasson
selig werden."
Und Goethe - ich möchte Johann Wolfgang hier auf dem
Helvetiaplatz herzlich willkommen heissen - schrieb:
Eines schickt sich nicht für alle
Sehe jeder, wie er's treibe,
Sehe jeder, wo er bleibe
Und wer steht, dass er nicht falle.
Kampf um die formalrechtliche Anerkennung
In einem Rechtsstaat gehört ein solcher Grundsatz formal
festgehalten. Der Grundsatz "Jedem das Seine" ist in der Schweizer
Bundesverfassung in der Präambel festgehalten, als gegenseitige
Rücksichtnahme und Achtung. Es wird ausdrücklich festgehalten, dass
vor dem Gesetz alle gleich sind - auch die Andersdenkenden, auch die
Anderslebenden. Und es steht konkret: "Niemand darf diskriminiert
werden wegen seiner Lebensform".
Es ist heute in der Schweiz breit anerkannt, dass homosexuelle
Paare ihre Partnerschaft ohne staatliche Behinderungen sollen leben
können. Wer füreinander sorgen will, darf nicht davon abgehalten
werden. Es braucht sicher einmal ein angepasstes Erbrecht, ein
Aufenthaltsrecht für ausländische Partner, Verbesserungen bei den
Sozialversicherungen, zum Beispiel der Pensionskasse, ein
Besuchsrecht im Spital oder im Gefängnis. In diesem Jahr wird der
Bundesrat dazu einen Vorentwurf zur Botschaft für eine registrierte
Partnerschaft in die Vernehmlassung geben.
In den nördlichen Staaten bestehen zum Teil schon seit längerer
Zeit entsprechende Gesetze, nicht jedoch in den südlichen. Das sind
kulturelle Unterschiede, die wir in der Schweiz auch spüren. Die
Auffassungen zur bundesrätlichen Politik sind dies- und jenseits des
Röstigrabens, zwischen Stadt und Land, zwischen Alten und Jungen
nicht dieselben. Gerade wegen diesen kulturell-politischen
Unterschiede gehen wir eine Politik der kleinen Schritte. Sie sähen
uns gewiss lieber etwas mutiger daherschreiten, ich weiss das (ich
denke an das Ehe- oder Adoptionsrecht).
Die Politik der kleinen Schritte ist eine Politik auch der
Rücksichtnahme. Auf jene Menschen nämlich, denen das alles viel zu
schnell geht, die sich überrumpelt fühlen. Es ist eine Politik im
Bewusstsein darum, dass Auseinandersetzungen zwischen politisch
verschiedenen Haltungen Zeit brauchen.
Kampf um die gesellschaftliche Anerkennung
Die rechtliche Anerkennung ist das Eine. Das Andere ist die
gesellschaftliche Akzeptanz. Die Frauen wissen es aus ihrem langen
Kampf um Gleichbehandlung: Rechtliche Gleichstellung bedeutet noch
nicht gesellschaftliche Gleichstellung.
Auch Goethe - er ist immer noch hier und gehört wieder einmal
zitiert - , wusste das; und er nahm es gelassen. Er schrieb:
Jedem redlichen Bemühn
Sei Beharrlichkeit verliehn.
Ihrer Beharrlichkeit ist es zum Beispiel zu verdanken, dass ich
heute die Worte "schwul" oder "lesbisch" viel leichter über die
Lippen bringe. In meiner Jugend waren dies obszöne Schimpfworte, und
ich wunderte mich später darüber, dass Sie sich nicht einen anderen,
weniger belasteten Namen geben.
Heute muss ich Sie dazu beglückwünschen. Sie sind auf diese Weise
zwar den schmerzlicheren Weg gegangen; aber Sie haben etwas in
Bewegung gebracht. Sie haben Schimpf und Schande auf sich genommen,
aber Sie sind daran, die Worte "schwul" und "lesbisch" salonfähig zu
machen (salonfähig waren sie zwar noch rasch einmal; ich meine
inhaltlich akzeptiert). Sie hätten auf eine politisch korrekte
Bezeichnung ausweichen können - etwas Lateinisches oder Griechisches
vielleicht? Sie hätten sich umtaufen können. Wie die Putzfrauen, die
zu Raumpflegerinnen und später zu Raumkosmetikerinnen umgetauft
worden sind. Wie die Dicken, die über die Zwischenstation "beleibt"
zu "Vollschlanken" oder sogar nur noch "horizontal Herausgeforderten"
wurden. Oder wie die alten Menschen, die man heute unverfänglich
"Senioren" nennen muss.
Politische Korrektheit schafft Tabus, fördert die Verdrängung und
behindert das Denken. Dass der frühere Fremdarbeiter zum Gastarbeiter
wurde, hat seine Lebensumstände nicht verbessert. Es hat nur das
schlechte Gewissen vieler Schweizerinnen und Schweizer beruhigt.
Stets wechselnde Etiketten wirken nicht aufklärerisch. Im
Gegenteil. Sie vertuschen das Problem und verhindern letztlich dessen
Lösung.
Sie, meine Damen und Herren, wollen etwas bewegen, Sie wollen
Einstellungen verändern. Dies ist ein Prozess, und Sie brauchen sehr
viel Ausdauer. Denn der Prozess dauert schon lange, und er wird wohl
noch lange weiter andauern.
Dass jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden soll, ist ja
eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Wir wundern uns, dass es nach
Jesus Christus mehr als 1 700 Jahre dauerte, bis ein Politiker diese
Selbstverständlichkeit aussprach. Heute, noch einmal ein Viertel
Jahrtausend später, sind wir zwar um einiges weiter. Doch die
Selbstverständlichkeit ist immer noch nicht da. Aber sie muss kommen.
Sie haben ein Recht darauf.