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Ein Präsident, der sich treu bleibt - Leitartikel

Berlin (ots)

Glückwunsch, Herr Präsident. Joachim Gauck redet nicht nur viel über Freiheit, er kämpft auch für sie. Getreu seiner ganz persönlichen Erfahrung, dass Freiheit besonders zu schätzen weiß, wer Unfreiheit erfahren hat, erteilte der Bundespräsident dem ukrainischen Präsidenten eine Lektion in politischer Glaubwürdigkeit. Er sagte seinen Besuch in dem zwischen Demokratie und Diktatur schwankenden Land kurzerhand ab, um gegen den Umgang seines Gastgebers Viktor Janukowitsch mit Oppositionsführerin Julia Timoschenko zu protestieren. Die hatte der nun schwer düpierte Präsident mit kommunistischer Biografie erst in einem Racheakt zu einer hohen Haftstrafe verurteilen lassen. Jetzt wurde bekannt, dass sie ganz offensichtlich auch noch gefoltert wurde. Der Bundespräsident hat mit seiner Absage selten erlebte staatspolitische Zivilcourage bewiesen. Und ein deutliches Signal gesetzt, wie er seine Präsidentschaft im Umgang mit Ländern, die es mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit weniger oder gar nicht ernst meinen, zu leben gedenkt. Es ist allerdings unklar, wie weit dieses Signal auch anderen den Weg zu mehr Mut und Glaubwürdigkeit gegen Staatslenker öffnet, die Freiheit als ein für sie bedrohliches Gift ansehen. Im Fall Ukraine, die sich mit der Fußball-Europameisterschaft in strahlendem Licht präsentieren will, wird das zweifellos gelingen. Nach Gaucks Absage wird es sich kein deutscher Politiker mehr erlauben können, sich während eines Spiels der deutschen Mannschaft auf oder hinter der Tribüne mit Janukowitsch sehen zu lassen. Auch die Bundeskanzlerin nicht, wenn Löws Elf das Endspiel in Kiew erreichen sollte. Das gilt auch für den Fall, dass die nachweislich schwer erkrankte Julia Timoschenko doch noch zu einer Behandlung in der Berliner Charité ausreisen darf. Doch die Ukraine ist nur ein kleines, zudem ein rohstoffarmes Land. So lobenswert Gaucks demonstrative Reaktion auf die Menschenrechtsverletzer in Kiew, so schwerlich ist vorstellbar, dass sie wirklich Schule machen wird. Sobald es um Wirtschafts- und Handelsfragen von hohem Rang, um Rohstoffversorgung samt verlässlicher Öl- und Gasversorgung geht, zählen andere Kriterien und Präferenzen. Schwer vorstellbar, dass Joachim Gauck einen Besuch in China oder Saudi-Arabien aus demselben Grund wie gegenüber der Ukraine im Einvernehmen mit der Bundeskanzlerin hätte absagen können. Realpolitik und Menschenrechtspolitik sind leider nur selten auf einen Nenner zu bringen. Das wird auch Joachim Gauck, wenn er es nicht schon längst weiß, noch lernen. Aber zumindest innerhalb Europas müssen Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie als Maßstab des gegenseitigen Miteinanders gelten. Das aber bitte nicht erst nachträglich. Deshalb wäre ein sportlicher Boykott der Fußball-EM oder der Eishockey-Weltmeisterschaft 2014 in Weißrussland ebenso wenig glaubwürdig wie ein musikalischer Boykott des Eurovision Song Contest Mitte Mai in Aserbaidschan. Bei der Vergabe der jeweiligen "Events" wusste jeder der Mitentscheider, dass weder in Kiew noch in Minsk und Baku Menschenrechtsfreunde das Sagen haben.

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