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Ein Skandal mit tödlichen Folgen / Leitartikel von Jochim Stoltenberg

20.07.2012 – 19:24 

Berlin (ots) -

Was immer am Ende noch alles aufgedeckt wird: Wirkung und Schaden des Göttinger Klinikskandals sind schon jetzt fatal. Kaum ein medizinischer Bereich ist so entschieden auf Vertrauen angewiesen wie die Transplantationsmedizin. Das gilt vor allem für die Bereitschaft, eigene Organe nach dem (Hirn-)Tod zu spenden, um das Leben eines anderen zu retten. Um diesen letzten menschlichen Dienst gegenüber einem ansonsten Todgeweihten ist es in Deutschland ohnehin schlecht bestellt. Wenn jetzt offenkundig wird, dass manipuliert, betrogen wurde und gespendete Organe möglicherweise gar käuflich sind, dann erschüttert das das notwendige Vertrauen zutiefst. Mit der tödlichen Konsequenz, dass die Bereitschaft zur Organspende schwindet und weniger Menschen ein neues Leben geschenkt werden kann. Erst vor vier Wochen hat der Bundestag das Transplantationsgesetz mit dem Ziel geändert, die Spendenbereitschaft zu fördern. Fortan werden alle erwachsenen Deutschen von ihrer Krankenkasse in regelmäßigen Abständen gefragt, ob sie zu einer Organspende bereit wären. Sie können mit "Ja" oder "Nein" antworten, sich aber auch gar nicht entscheiden. Weil viele Menschen bei dieser Post von ihrer Kasse überhaupt erstmals intensiver über eine Organspende nachdenken, hoffen die Bundestagsabgeordneten auf mehr Zuspruch. Derzeit warten etwa 12.000 Patienten auf ein Spenderorgan; täglich sterben drei von ihnen. Nach Umfragen sind Dreiviertel aller Deutschen grundsätzlich zu einer Organspende bereit, aber nur ein Viertel bekräftigt das offiziell mit einem Spenderausweis. Kritiker des Gesetzes hatten ihre Ablehnung unter anderem damit begründet, dass die Deutsche Stiftung Organtransplantation, die alle Organspenden koordiniert, nicht sauber arbeite. Der Vorwurf der Vettern- und Misswirtschaft stand im Raum. Er ist bis heute nicht restlos aufgeklärt. Der Fall des Göttinger Arztes und dessen möglichen Mittäter ist von anderer Qualität. Aber er bestätigt leider, dass die Medizin unglaublich viel Humanes leistet, aber in vielen Bereichen längst auch zu einem knallharten Geschäft geworden ist. Betrug und Korruption nicht ausgeschlossen. Mit der Kontrolle ist es nämlich nicht so weit her, wie sie gerade in der besonders sensiblen Transplantationsmedizin nötig ist. Dass der Göttinger Transplanteur überhaupt noch operieren durfte, ist allein einer verantwortungslosen Nachsicht geschuldet: Er war schon 2005 aufgefallen, weil er eine Leber nicht - wie protokolliert - in Regensburg, sondern in Jordanien transplantiert hatte. Der Skandal, so ist zu befürchten, wird nicht allein die Bereitschaft zur Organspende mindern. Er wird Deutschland noch weiter von der Lösung entfernen, die am meisten Leben rettet: die Widerspruchslösung. Sie erlaubt eine Organentnahme, wenn sie nicht ausdrücklich abgelehnt wird. Belgier, Österreicher und Spanier haben sie akzeptiert, um Spenderorgane wird dort weniger hart gerungen. Eine solche Regelung auch in Deutschland wäre der wohl sicherste Schutz vor Manipulationen wie in Göttingen.

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