Logo Presseportal

Vollversion Presseportal


SNF: Eine Studie des NFP 58 zum Schweizer Judentum

14.09.2010 – 08:00 

Bern (ots) -

Jüdische Gemeinden im Umbruch
Die jüdische Gesellschaft in der Schweiz befindet sich im Wandel. 
Viele Juden können sich nicht mehr mit den religiösen Bestimmungen 
der traditionellen orthodoxen Gemeinden identifizieren und treten 
liberalen Gemeinschaften bei. Das grösste Konfliktpotenzial birgt der
Umgang mit Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden, wie eine Studie 
des Nationalen Forschungsprogramms «Religionsgemeinschaften, Staat 
und Gesellschaft» (NFP 58) zeigt.
In der Schweiz leben rund 18'000 Jüdinnen und Juden. Etwa drei 
Viertel von ihnen gehören einer der rund zwei Dutzend jüdischen 
Religionsgemeinden an. Diese decken ein breites Spektrum ab, von 
strenggläubig orthodox bis liberal. Wie ist diese jüdische 
Gemeindelandschaft entstanden? Und wie hat sich das religiöse Leben 
der Juden in den letzten fünfzig Jahren verändert? Um diese Fragen zu
beantworten, haben Forschende am Institut für Jüdische Studien der 
Universität Basel im Rahmen des NFP 58 die jüdischen Gemeinschaften 
in Basel, Genf und Zürich untersucht. Hier leben rund 70 Prozent der 
Schweizer Juden.
Die gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte haben 
tiefgreifende Auswirkungen auf das religiöse Leben der Juden. Bis in 
die Mitte des 20. Jahrhunderts gab es in der Schweiz ausschliesslich 
orthodoxe Gemeinden. Die jüdische Gemeinschaft war aufgrund der 
religiösen Traditionen, aber auch wegen der äusseren Anfeindungen 
geprägt durch einen starken Zusammenhalt. Ab den sechziger Jahren 
wuchs in einem gesellschaftlich offenen Umfeld das Bedürfnis nach 
persönlichen Freiheiten. Die Bedeutung der Religionsgemeinschaft im 
Alltag schwand. Dadurch traten - und treten - Konflikte auf zwischen 
den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft und den jahrhundertealten 
religiösen Normen.
Zunahme der Mischehen
Der Knackpunkt ist die so genannte Mischehe, wie die Forschenden 
herausgefunden haben: Immer mehr Juden - Männer und Frauen - heiraten
einen nichtjüdischen Partner. Heute beträgt der Anteil der Mischehen 
über fünfzig Prozent. Diese Annäherung an die nicht-jüdische 
Gesellschaft ist einerseits ein Zeichen für eine umfassende 
Integration. Andererseits gefährdet die Entwicklung aber den 
Fortbestand der traditionellen jüdischen Gemeinschaft, da 
religionsgesetzlich nur Kinder einer jüdischen Mutter als Juden 
gelten. Orthodoxe Gemeinden und deren Rabbinate reagierten auf 
Mischehen mit der Ausgrenzung der nichtjüdischen Angehörigen. «Um 
eine abschreckende Wirkung zu erzielen, nahmen die meisten orthodoxen
Rabbiner nichtjüdische Ehefrauen und Kinder nur sehr restriktiv ins 
Judentum auf», erklärt der Historiker Daniel Gerson. Das führte oft 
zum Bruch mit der Gemeinschaft. Die Folge war ein Aderlass in den 
bestehenden Gemeinden und eine Pluralisierung: Ab den siebziger 
Jahren entstanden neue liberale Gemeinden und Gemeinschaften, die 
sich stärker um die religiöse Integration der nicht-jüdischen 
Angehörigen bemühten.
Verstärkt wurde die Bildung neuer Gemeinschaften durch weitere 
Veränderungen: Das von den Religionsgemeinden geforderte finanzielle 
und zeitliche Engagement lehnten viele Juden als zu belastend ab. 
Viele zweifelten zudem die Autorität des Rabbinats als willkürlich 
und unzeitgemäss an. Die Reformbewegung hob die räumliche Trennung 
von Mann und Frau im Gottesdienst auf. Heute gibt es im religiösen 
Leben bei den beiden grossen liberalen Gemeinden in Genf und Zürich 
keine Geschlechtertrennung mehr. Auch Frauen werden zum Lesen der 
Thora aufgerufen.
Orthodoxe gehen eigene Wege
Ein Teil der orthodoxen Gemeinden sieht in der offenen Gesellschaft 
eine Gefahr und reagiert mit Distanzierung. In den letzten Jahren 
entstanden privat finanzierte jüdische Schulen, in denen der 
Religionsunterricht einen grossen Stellenwert einnimmt. Die 
Konzentration auf die religiöse Bildung schaffe Probleme, sagt 
Gerson. Den jungen Erwachsenen gelinge oft der Einstieg ins 
Berufsleben nicht. Gerade ultraorthodoxe Familien seien deshalb nicht
selten von privater oder staatlicher Unterstützung abhängig.
Religiös konservative Gemeinden prägen das Judentum laut der 
Untersuchung zwar auch heute noch. Doch die Reformgemeinden werden 
wichtiger. Da auch sie von ihren Mitgliedern eine grosse finanzielle 
Beteiligung verlangen, werden sich in Zukunft vermehrt auch 
informelle, kleine Gemeinschaften bilden, in denen Familien ihren 
Kindern jüdische Religionspraxis ohne Rücksicht auf die Autorität 
eines Rabbiners vermitteln. Diesen Gruppen jedoch fehlen häufig 
dauerhafte Institutionen wie ein Gemeindehaus oder ein Friedhof.
Die Zusammenfassung der Untersuchung «Schweizer Judentum im 
Wandel» sowie der Text dieser Medienmitteilung stehen auf der Website
des Schweizerischen Nationalfonds zur Verfügung:
www.snf.ch > Medien > Medienmitteilungen

Kontakt:

Dr. Daniel Gerson
Institut für Jüdische Studien
Universität Basel
Leimenstrasse 48
CH-4051 Basel
Tel.: +41 78 719 95 74
E-Mail: daniel.gerson@unibas.ch