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Besser früher als später raus aus Afghanistan
Leitartikel von Jochim Stoltenberg

Berlin (ots)

Mut kann man der Bundeskanzlerin nicht absprechen. Dass Angela Merkel in der emotional aufgeladenen und damit höchst unsicheren Lage zu einem Solidaritätsbesuch der deutschen Soldaten in Afghanistan geflogen ist, spricht für sie. Die Umstände ihres Stundenbesuchs zehn Jahre nach Beginn der Befriedungsbemühungen am Hindukusch sprechen allerdings Bände. Mehr oder minder bei Nacht und Nebel samt allem nur erdenklichen Sicherheitsaufwand kreuzte Merkel bei den Soldaten auf. Von einer friedlichen Entwicklung ist Afghanistan trotz aller Mühen und Opfer der Weltgemeinschaft noch immer so weit entfernt wie einst die DDR von der Demokratie. Besonders desillusionierend: Die Stimmung im Land kippt weiter und stärkt die, die allen Fortschritt zur Todsünde erklären. Dass die westlichen Helfer wesentlichen Anteil an diesem Desaster haben, ist tragisch. Statt alles zu tun, um die Herzen der nach Recht und Gesetz, nach Bildung und Befreiung aus der Armut dürstenden Menschen zu gewinnen, werden deren Kultur, ihre Religion und ihre Tradition viel zu oft sträflich missachtet. Das Urinieren auf tote Taliban, die Koran-Verbrennung und nun auch noch die Erschießung von Kindern und deren Müttern im Schlaf haben Wut, Empörung und neue Feindschaft denen gegenüber ausgelöst, die als vermeintliche Befreier ins Land gekommen sind. Das anfängliche Vertrauen in weiten Bevölkerungskreisen ist verbreitetem Misstrauen gewichen. Es wird noch bestärkt durch eine Regierung Karsai, die schwach, korrupt und höchst unzuverlässig ist. Je nach eigenem Vorteil taktiert sie mal mit Taliban und Warlords, mal mit dem internationalen Hilfskorps. Es ist schon erstaunlich, wenn die Bundeskanzlerin bei ihrem Truppenbesuch angesichts dieser Lage den bis Ende 2014 geplanten totalen Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan infrage stellt. Auch sie weiß um das Misstrauen, das längst auch zwischen den Isaf-Soldaten und den von ihnen ausgebildeten heimischen Sicherheitskräften herrscht. Ein Spaltpilz, der mit jedem weiteren Teilrückzug wachsen und in massenhaften Überläufen zu den Taliban enden wird, je näher der endgültige Abzugstermin rückt. Denn die Regierungssoldaten sind nicht nur schlecht bezahlt, ihre Kampffähigkeit ist nach aller Erfahrung auch der der Taliban unterlegen. Die innenpolitisch motivierte Verkündung eines Abzugstermins durch die wichtigsten westlichen Regierungen war der GAU für Afghanistan. Sie kommt dem Eingeständnis gleich, dass selbst mit bescheidenen Erfolgen nicht mehr gerechnet wird. Zu groß sind letztlich die kulturellen Unterschiede und Missverständnisse, als dass die Mission Afghanistan hätte gelingen können. Vor zehn Jahren war ich anderer Meinung. Aber je aussichtsloser die Lage wird, desto realistischer müssen die Konsequenzen sein. Statt laut über eine Verlängerung des Einsatzes deutscher Soldaten zu sinnieren, sollte die Kanzlerin besser über einen früheren Abzug nachdenken. Über einen geordneten, mit den Verbündeten abgestimmten. Was sollen deutsche Soldaten noch zwei Jahre in einem Land, in dem selbst das Parlament den "ausländischen Truppen" den Rückzug nahelegt?

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